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frappieren swV. 'in Erstaunen versetzen, befremden', sondersprachl. Im 18. Jh. entlehnt aus frz. frapper (wörtlich: 'schlagen'), aus frk. *hrapon 'raufen, raffen', zu ahd. *raffon (dass.). Die Bedeutungsentwicklung hin zu 'entfremden' wohl auf Basis des Überraschungseffektes eines plötzlichen Schlages (vgl. ne. striking).

Wo bin ich hier eigentlich?

Die Aufmerksamkeitserregung durch die Ereignisse in Erfurt oder Dschenin ebbt langsam wieder ab. Wieder stelle ich mir die Frage, welche Bedeutung ich den letzttägigen Ereignisse zuordnen soll. Einerseits attestiere ich mir eine durchaus differenzierte, kritische Wahrnehmung, diagnostiziere andererseits aber auch, dass Vielfalt und Menge an Informationen, Neugigkeiten in mir selbst zu einem thematischen Brei unbestimmbarer Konsistenz und geschmacklicher Gewagtheit verrührt werden. Mit Fragmentiertes Leben habe ich diese Gemengelage mal versucht zu beschreiben. Dazu die (unangenehme) Vorahnung, dass diese Ereignisse (wie auch der 9.11., Spendenskandale in CDU wie SPD, europäische Rechtsrucke von Jean-Marie Le Pen über Jörg Haider, Medienverwerfungen von Silvio Berlusconi über Leo Kirch bis hin zu Rupert Murdoch) keine wesentlichen Spuren hinterlassen sondern gleichsam gleich vergessen sind. Ist das schon pathologisch? Bereuenswert? Vermeidbar? Aufmerksamkeitsspannen von mikroskopischem Format? Es zeichnet die Mediengesellschaft aus, ohne eine Auszeichnung zu sein.

Die Fragestellung schürft bei genauerer Betrachtung tiefer: Das Wissen um die fast instante Reduktion nicht nur meiner sondern genereller der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit ist ein sich stetig beschleunigender Prozess. Eine Entwicklung, die ich mit Fragmentierung bezeichnen möchte. Die Fassung des Begriffes Fragmentierung erfolgt selbstverständlich auch in unzusammenhängenden Sätzen, in Einzelaspekten, in Partikularperspektiven, in Fragmenten:

(1) Die Partikularisierung und Ausdifferenzierung persönlicher Interessen fragmentiert die Weltanschauung in individuelle Einzelperspektiven. Auch wenn mediale Erregtheiten sich immer wieder bemühen, Ereignisse hochzuspielen zu den Ereignissen, die die Welt berühren, steht dem doch die persönliche Erfahrung diametral gegenüber, dass die Schnittmenge über die individuelle Ereignisrezeption schon bei zwei Personen gegen die leere Menge konvergiert. Andererseits sind es diese Überschneidungen, die letzten Endes die gemeinsame Basis definieren, ohne die Kommunikation zu sinnentleertem, belanglosem Gemurmel degeneriert. Kommunikation erfordert einen thematischen Kern, eine gemeinsame inhaltliche Basis, gemeinsame Sprache und Vokabular, die durch Fragmentierung infrage gestellt ist.

(2) Abzulehnen ist die Vermutung, dass es sich bei Fragmentierung um eine Form der Neuen Unübersichtlichkeit handelt. Die Habermassche Prägung suggeriert die Möglichkeit, dass besondere Bemühungen, beispielsweise die Erhöhung des eigenen Beobachtungsstandpunktes, diese Unübersichtlichkeit aufheben könne. Im Kern handelt es sich hier um eine aufklärerische Grundannahme. Fragmentierung widersetzt sich aber der Annahme, dass eine Erhöhung der Leuchtstärke, eine Erweiterung des Horizonts tiefere Erkenntnis verschafft. Fragmentierung schließt per definitionem parallele und partielle Wirklichkeiten, die ihre jeweilige Wahrheit, Wahrhaftigkeit haben, ein.

Anders formuliert: Die Neue Unübersichtlichkeit konstatiert die Schwierigkeiten bei der Suche nach der Wahrheit, nach dem letzten Grund. Und suggeriert, dass Ordnungsstiftung möglich ist, durch ERkenntnis, Analyse und den Diskurs aufgeklärter Individuen. Fragmentierung dagegen geht davon aus, dass sich die Gesellschaften über die Zeit dahin entwickeln, die Frage nach ihrer eigenen Bedeutsamkeit innerhalb ihres Kontextes (der wiederrum ein Fragment ist), zu etablieren.

(3) Fragmentierung inszeniert sich am deutlichsten in den aktuellen multiplen und sequenziellen Berufs- und Beziehungsbiografien. Der integral gemeinte Begriff der in sich geschlossenen Biografie wird durch aktuell erfahrene, erlebte Lebenswirklichkeiten aufgelöst in verschiedene Partialwirklichkeiten — oder eben Fragmente.

(4) Ein weiterer selbst-empirischer Beweis für eine gesellschaftliche Fragmentierung findet sich in einem historischen Rückblick: Wo es vor wenigen Jahren noch thematische Schwerpunkte gab, z.B. gesetzt durch eines der drei Fernsehprogramme am Vorabend, diffundiert diese verbindende Erfahrung in der Vielfalt von 30 oder mehr Programmen (ohne jedwede programmatische Ausrichtung). Der Gesellschaftscluster, dem ich einzurodnen wäre, schrumpft auf das Ein-Mann-Universum.

(5) Orientierung erfordert definierte Fixpunkte. Die fortschreitende Fragmentierung hebt diese Fixpunkte auf. Für mich ist es naheliegend, diesen Verlust an Orientierung mit als ursächlich dafür zu begreifen, dass die Gesellschaft zunehmend Individuen gebiert, die scheinbar frei und losgelöst von jedem common sense ihre eigenen Interessen verfolgen. Und diese Interessen entstehen völlig losgelöst von jeder gesellschaftlich akzeptierten Libertinage.

(6) Platons Höhlengleichnis zeigt die Begrenztheit der menschlichen Wahrnehmung und letztendliche Einsicht in die Begrenztheit der eigenen Erkenntnis. Fragmentierung eskaliert diese Erfahrung der Unzulänglichkeit der eigenen Einsicht in einen universellen Maßstab: Erkenntnis, Einsicht ist sui generis unmöglich aufgrund der Fragmentierung sowohl des persönlichen, individuellen Lebens wie auch des jeweiligen Lebensumfeldes.

(7) Wo Individualismus ein gewollter Akt des Eigensinns ist, führt Fragmentierung zu einer von außen kaleidoskopartig zerplitterten Außen- und Innenwahrnehmung, die Individualismus nicht als freiheitlichen Akt versteht, sondern als rein persönliche Lebenswahrnehmung definiert.

Fazit? Ich begrüße das Leben in einer societas potentialis. Innerhalb gesellschaftlicher Normen erlaubt mir meine Umwelt, wie weit ich sie auch definiere, das Leben nach meinen persönlichen Vorlieben, Präferenzen, Neigungen. Einzige Einschränkung, Begrenzung, Domestifizierung erfolgt durch Normen, die inzwischen auf ein UN-Mindestmaß reduziert sind, nicht weit entfernt von den mosaischen Tafelkritzeleien. Damit bleibt nicht viel an normativem Charakter. Sie gewinnen ein Blauhelm-Beliebigkeit, die keine Gemeinsamkeit stiftet außer der gemeinsamen Abscheu gegen das völkerrechtliche Verbrechen. Was fehlt, ist ein breiteres Verständnis darüber, was uns verbindet, uns gemeinsam ist. Der Ruf nach Integrationsfähigkeit geht ins Leere, wenn unklar bleibt, wohin denn integriert werden soll. Genauso erzeugt der Roman Herzogliche Ruf nach dem "Ruck", der durch Deutschland gehen müsse, nur ein multifrequentes Grundrauschen der verschiedenen Gesellschaftsfragmente.

Kurz gesagt: Ich delektiere mich an meinen Partikularinteressen, genieße mein Leben in meinen Fragmente, ärgere und ängstige mich weiter über die Exzesse dieser Welt, habe keine Antwort und fürchte, dass die Suche danach ein Phantom jagt.

[kellers,  20:38 · referenzieren ·  ]



Der Platz, an dem ich schreibe

Neben der Ausstellung der Arbeitsplätze und Schreibtische, fände ich auch eine Beschreibung des Schreibkontextes interessant. Um es gleich konkret zu machen:

Ich sitze mit einem Laptop an einem 120 x 80 cm großem Esstisch, der außer einer Flasche Rotwein (ein portugiesischer Tinto) aktuell aber keine richtigen Lebensmittel trägt. Links von der Tastatur findet sich ein angebrochenes Päckchen Tabak, Van Nelle halbschwarz; zugehörige Blättchen finden sich auf der rechten Seite der Tastatur neben dem Aschenbecher. Wo mein Blick gerade auf genau diesen Gegenstand fällt, erspähe ich auch noch ein Honigglas, welches nach dem heutigen Frühstück nicht zurückgeräumt wurde. Daneben dann noch eine Flasche Mineralwasser. Hinter dem Monitor türmt sich ein erster Bücherstapel von Dostojewskis Idiot, Manuel Castells Die Netzwerkgesellschaft, Sven Regeners Herr Lehmann und Michel Houellebecqs Elementarteilchen. In der rechten äußeren Ecke schiebt sich die aktuelle Zeit über das Titelblatt der gerade neu erschienen Ausgabe des Journal Frankfurt.

Daneben kann, wer sucht, auf dem Tisch noch verschiedene Kommunikations-Apparaturen finden: Zwei Fernbedienungen, für den Fernseher und die Anlage und zwei Telefone, das Handy und das Mobilteil des Festnetzanschlusses.

Rechts von mir direkt am Tisch anschließend kragt der zwei Meter tiefe Tresen in den Raum und verhindert den direkten Blick auf den unteren Bereich der Küchenzeile. Direkt an der Wand eine Sammlung diverser Alkoholika, diverse Whiskys (Single Scotch Malts, für den Eigengenuss: Glenkinchie, Macallan, Lagavulin, Cragganmore) sowie eine Flasche Cognac und eine mit Sherry für's Kochen. Daneben noch ein Bücherstapel (wer kauft die bloß immer?!), zuunterst der Indexband meiner Georg Christoph Lichtenberg-Ausgabe, dann Dornseiffs Der Deutsche Wortschatz nach Sprachgruppen und Wladimir Kaminers Schönhauser Allee. Dann noch ein Ordner mit verschiedenen Texten und Artikeln, die ich immer noch mal lesen wollte und darauf noch zwei Suhrkamp-Taschenbücher (1 x stw und 1 x es). Dieser Stapel wird aufmerksam beäugt von zwei Bananen, die sich den Platz in der Obstschale mit zwei Äpfeln und diversen Pampelmusen teilen. In deren Rücken lauert dann noch ein giftgrüner Pons, Globalwörterbuch deutsch englisch. Am Ende des Tresens finden sich dann die administrativen Hinterlassenschaften der Woche, eine Gehaltabrechnung und eine Arztrechnung. Wiederum auf's lockerste vermengt mit Autoschlüssel, Portemonnaie, Zutrittskarte zum Büro und zur Tiefgarage und dem Korkenzieher.

Insgesamt betrachtet, ausreichend zu tun für die nächsten Tage: Lesen & Trinken!

[kellers,  22:44 · referenzieren ·  ]



Ein Grund, warum ich schreibe

In der aktuell wieder aufgefrischten Diskussion über die mediale Wahrnehmung des "Bloggens" fehlt mir ein Aspekt, der für mein elektronisches Tagebücheln wichtig ist:

Das Aufschreiben von Gedanken, Einfällen, Ereignissen führt durch das Aufschreiben zu einer Konkretisierung und Verifizierung des Gedachten. Aufgrund von Neugier und Interesse sehe ich mich einer Informationsflut ausgesetzt, die zwar durch mein Interessenprofil gefiltert wird. Diese Filterung und Aussortierung wird parallel aber durch durch die Charakteristik des Mediums Internet, der instanten Verfügbarkeiten und des just one click away, konterkariert. Hier setzt nun bei mir der Effekt einer zweiten Filterung ein: Die Bewertung bezüglich des Bewahrenswertes: Und ein privates "Weblog" enthebt einen jedweder Einschränkungen zu Inhalt und Form. Folglich bleibt als einziges Kriterium die persönliche Ambition, die eigene Informations- oder Unterhaltungswertschätzung.

Ist diese Hürde genommen, setzt ein zweiter, positiver Effekt ein: Eine Informationsverdichtung und Aggregation, bei mir auch dadurch hervorgerufen, dass ich langsamer schreibe als spreche oder gar denke. Diese Geschwindigkeitdifferenzen führen dazu, dass der Kopf Zeit gewinnt, das Geschriebene zu hinterfragen, zu verifizieren. Und natürlich aus dem Geschriebenen heraus auf Bezüge, Querverweise zu lauschen. Diese Hinterfragung des Kontextes ist dann der Moment, das gerade Geschriebene auch in diesen Kontext zu setzen, zu verankern. [Einschub: Warum heißen "Links" eigentlich nicht Anker? Wäre doch die naheliegende Übersetzung von HTML <a href="..."> ... </a> ins Deutsche?]

Diese Einbettung in einen Kontext ist gleichsam die schützende, wärmende, energiespendende Fettschicht um den einzelnen Eintrag. Für das durch mich Geschriebene bedeutet diese Einbettung — wie im richtigen Leben — eine Geschmacksverstärkung, die Anreicherung um Aromen. Und um weiter in dieser Koch- und Lebensmittelmetaphorik zu verbleiben, ergibt sich ein schmackhaftes Gericht nur aus dem ausgewogenen Zusammenspiel guter Grundzutaten und der Akzentuierung durch ausgewählte Gewürze und Kräuter. Ich wünsche einen Guten Appetit! Aber im Ernst: Warum ich schreibe? Immer in der Hoffnung auf ein interessantes Gericht. Und zuallererst muss es mir munden.

[kellers,  08:44 · referenzieren ·  ]



Fragmentiertes Leben

Ohne das Drehen der Selbsterkenntnismühle unnötig zu beschleunigen und ohne große Lust, der Selbstreferenzialität bezichtigt zu werden, gibt obige Überschrift einen Gutteil meines aktuellen Selbstverständnisses wieder:

Die persönliche Wahrnehmung erfolgt fragmentiert über eine zunehmende Zahl von Interessen, Kanälen und Quellen (unter denen das Internet nur eine(r) ist). Diesen Zuwachs Ad infinitum fortgesetzt, verschwindet mathematisch-logischer Weise damit auch der Quellenbegriff, der nur über die Differenzierung gedacht werden kann. Unterscheidung oder Kritik benötigt für die Einordnung in das persönliche Referenzsystem die Quellenangabe. Bei unendlicher Quellenanzahl ist diese Einordnung aber unmöglich oder erfordert eine unendliche Anzahl an Referenzpunkten. Und dafür dürfte unser Leben doch etwas zu kurz sein.

Als anderes Beispiel für schwindende Bedeutung der Differenzierung betrachte man nur das zunehmende Auftreten alarmistischer E-Mail-Wellen zu diesem oder jenem Thema (man denke z.B. an die Q33YE zum 9.11.). Diese Wellen durchziehen die verlinkte Gesellschaft wie ein Herzflimmern, ohne das am Ende Auslöser oder Ergebnis der Debatte auszumachen wären. Wobei der Begriff Debatte an dieser Stelle einen Anachronismus mit Verweisen auf rauchgeschwängerte Debattierklubs darstellt, der besser durch Foren oder Chats ersetzt würde. Die Quelle ist egal (und letztlich auch seltenst ermittelbar), aber es geht ja auch nicht um die Aussage und die Auseinandersetzung damit, sondern um die Schneeballartige Verbreitung von "Stimmung": Helau!

Das Sender-Empfänger-Modell geht unter in einem kakophonischem Rauschen. Dieses Rauschen an sein kommunikationstheoretisches Ende gedacht vollendet die durch Claude E. Shannon definierte Informations-Entropie.

Fragmentierung findet aber nicht nur auf der Rezeptionsseite auf, sondern ebenso auf der Emissionsseite statt: Die Medienwissenschaft hat sicher bessere Ausdrücke als Emission, die Assoziation von Umweltverschmutzung finde ich aber durchaus interessant, sodass ich sie hier mal als gewollt stehen lasse: Bei aller Gefahr, als arrogant verschrieen zu werden — vielleicht bin ich es ja? Gespräche degenerieren zu Talks, fragmentieren zu SMS-Schnippseln, E-Mail-Replies und AB-Nachrichten, verlieren ihren Privatcharakter durch das Fehlen von Funklöchern.

Andererseits entstehen neue Pubklikationsformen: Siehe hier. Und gerade Weglogs propagieren mit einzelnen Postings die Philosophie des Fragments, der Unverbindlichkeit. Und machen das Internet damit reicher! Aber besser? Das Internet als Medium für eine Demokratisierung der Kommunikation und Publikation zu betrachten, fällt mir schwer: Viele der Inhalte zeugen doch eher für einen Rückzug ins Private, für eine grenzenlose Beliebigkeit. Mein Problem besteht in der Sehnsucht nach Verbindlichkeit und Ehrlichkeit. Selbst wenn dieser Eintrag ehrlich ist, gibt es keine Gewähr für das Entstehen von Kommunikation, Verbindung oder Verbindlichkeit.

Und Gleiches gilt in jeder anderen Kommunikationssituation, da bei beiderseits (Sender und Empfänger) fragmentierten Leben ein "Gleichklang", der zur Integration von Meinungen und Leben führt, statistisch höchst unwahrscheinlich ist.

Sehnsucht nach Gleichklang! Zugegeben, ich bin ein alter Romantiker! Mein Wunschzeitalter wäre wahrscheinlich die Epoche eines Humboldt in der Ausprägung des Universal-Gelehrtentums. Jetzt bin ich selber des Rechnens ausreichend mächtig, dass mir, bei exponentiellem Informations- oder gar Wissenswachstums die Einsicht, dass diese Ära Geschichte ist, nicht allzu schwer fällt. Nüchtern betrachtet. Aber man wird ja noch Träumen dürfen.

Und hiermit komme ich wieder zu mir selbst ("Zu sich kommen" als Form der Defragmentierung? Reorganisation der eigenen Festplatte?!): Die Sehnsucht nach Integration des eigenen fragmentierten Lebens. Und diese Sehnsucht scheitert in gewisser Weise bereits an dem Unvermögen, mir meiner Fragmente des Alltags — des Lebens? Das wäre unvermessen! — bewusst zu werden: Freunde, Bekannte, Bücher, Musik, Filme; Kontakte, Gespräche, Diskussionen; Phantasien, Sehnsüchte, Gefühle, Abneigungen? Die Integrationsformel für Kopf und Bauch lässt auf sich warten. Das Warten ist leider nicht immer angenehm ...

Die Suche nach der Integrationsformel für mein fragmentiertes Leben geht weiter!

[kellers,  19:49 · referenzieren ·  ]



Nach langer, langer Zeit ...

... mal wieder einen Artikel von Diedrich Diederichsen mit dem wunderbaren Titel Adornos Taschentuch gelesen. Das letzte Mal war wahrscheinlich während oder kurz vor meinem Studium, als es noch hip war, die Spex zu lesen.

Diedrich Diederichsen breitet sich darin gewohnt eloquent-exzentrisch über die Möglichkeiten des Nonkonformismus in heutiger Zeit aus. Sehr interessant, gerade in Bezug auf seine "Ally McBeal"-Analyse. Lesen! Genau in diesem Abschnitt ist mir mit Verwunderung ein zentraler Unterschied zwischen Blues & Jazz aufgefallen. Neben den musikalischen und historischen Unterschieden scheint mir die individuelle Präferenz für Jazz oder Blues, und hierbei handelt es sich meiner Ansicht nach um ein ausschließendes "oder", stark mit der Persönlichkeit, der persönlichen Empfindung verbunden.

Blues transportiert bei allem untergründigem Weltschmerz ein Heilsversprechen wie das Schmerz-wegpusten bei Kleinkindern. Blues ist weich, stiftet Trost, drückt Verständnis aus, will in seiner Extremform — dem Gospel — Bekehren, Versöhnen, Missionieren.

Jazz steht dem diametral gegenüber: Ein 13/8-Takt dürfte die wenigsten bei Trauerarbeit unterstützen, vielmehr verwirren, verstören, erregen, aufregen. Jazz ist kultivierte Disharmonie. Blues ein uneingelöstes, dennoch immer wiederholtes Harmonieversprechen. Zurückblickend auf mein Leben als anekdotisches Leben verwundert mich meine Jazzpräferenz nur wenig. Und wenn ich hier von Jazz spreche, so meine ich nicht, bei alles Achtung, den klassischen Jazz eines Keith Jarrett (klassisch im Sinne von J.S. Bach), auch nicht den Standardjazz eines Dave Brubeck'schen Take Five, sondern beginne meine Heroenliste z.B. mit einem Ornette Coleman und mäandere dann laienhaft und jeder Chronologie enthoben über Sonny Rollins und Cecil Taylor hin zu John Zorn. Die Jazzinitiation an dieser Stelle mit Ornette Coleman beginnen zu lassen, hat den besonderen Charme, dass er sein Kompositionsverfahren mit Harmolodics tituliert hat. Das passt ja wieder wie die Faust auf's Auge? Noch nicht ganz, solange ungeklärt ist, was harmolodisches Empfinden (die Faust) bei mir (das Auge) bedeutet. Assoziierungen mit "Desintegration" und "Anekdote", wie sie mir ja seit einiger Zeit durch den Kopf gehen, beweisen eine potenzielle Trefflichkeit dieses Vergleichs.

Die eigene Selbst-Definition erfolgt (nur bei mir?) mehr und mehr durch den Vergleich. Ein Problem dieses Vorgehens ist das Fehlen des Maßstabs. Die lust- und qualvolle Erfahrung der Geworfenheit in eine Welt von Vergleichsoptionen, die wiederum stets sich wandeln. Vielleicht hat ein Anekdotisches Leben aber gerade dadurch einen Charme, den es aktiv zu nutzen gilt?

Pseudo-Philosophie?

[kellers,  18:24 · referenzieren ·  ]



Anekdotisches Leben

Der Abschluss der, wenn nicht anstrengenden, so doch gewichtserhöhenden Weihnachtsfeiertage brachte die schmerzvolle Erkenntnis eines anekdotischen Lebens, welches ich führe. Das anekdotische Leben lässt sich anhand von Merkmalen dignostizieren, die heißen: Keine längere Geschichte erspinnen, Tendenz zu Sottisen und kleineren, anmerkungsartigen Einsprengseln, etc.

Dekonstruktivismus, der sich des persönlichen Alltags bemächtigt, gewinnt ein unangemessenes Bedrohungspotenzial, die er im gewöhnlichen kulturellen Umfeld nicht erlangt. Dort ist das Theaterstück nur irritierend unverständlich, das Kunstwerk von interesseheischender Unverbindlichkeit.

Das persönliche Lebensschicksal dagegen entsprechend attributiert ist keine artistische Anverwandlung, sondern im Kern existenzielle Bedrohung durch ausgeprägte Beliebigkeit.

Und Beliebigkeit ist nun gerade ein nicht-erstrebenswerter Zustand in heutigen exhibitionistisch-expressiven Zeitläuften. Ein kurzes Resümee der vergangenen Tage bringt wenig auf die Waage. Die Leichtigkeit des Seins vaporisiert sich in trivialer Alltäglichkeit. Nicht nur ein Nichts zu sein, sondern konstituierender Bestandteil einer globalen Nichtigkeit, ist eine im Kern schockierende Erfahrung, deren Ausleben sich kontrapunktisch sowohl zu einem gediegenen Laissez faire wie einem exaltierten Express yourself verhält.

Die naheliegende Vermutung einer gewissen Weltverachtung wird dabei konterkariert durch einige wenige angenehme Minuten mit meiner Schwester M*****, einer dekadenten, drei Generationen übergreifenden Familien­zusammen­rottung, dem Treffen mit meinem alten Studienfreund A****.

Trotzdem im Hintergrund die dräuende Frage nach dem Was bleibt? Anekdotisches Erleben distanziert gleichsam von der Personalisierung jedweden Gefühls bei der Wahrnehmung dieser Momente auch als (er-)lebenswerte Facetten des Alltags und degradiert jeden Moment zu seiner globalen Belanglosigkeit, die ihm natürlich inne ist. Nur, diese Irrelevanz ist natürlich Grundessenz jeden Lebens bzw. Leben ist erst dann, wenn diese Bedeutungslosigkeit nicht als Versagen sondern als durchaus parte Grundmelodie des eigenen Lebens erkannt und angenommen werden kann.

[kellers,  18:02 · referenzieren ·  ]


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