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frappieren swV. 'in Erstaunen versetzen, befremden', sondersprachl. Im 18. Jh. entlehnt aus frz. frapper (wörtlich: 'schlagen'), aus frk. *hrapon 'raufen, raffen', zu ahd. *raffon (dass.). Die Bedeutungsentwicklung hin zu 'entfremden' wohl auf Basis des Überraschungseffektes eines plötzlichen Schlages (vgl. ne. striking). | |||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
Mittwoch, 1. Mai 2002
Wo bin ich hier eigentlich? Die Aufmerksamkeitserregung durch die Ereignisse in Erfurt oder Dschenin ebbt langsam wieder ab. Wieder stelle ich mir die Frage, welche Bedeutung ich den letzttägigen Ereignisse zuordnen soll. Einerseits attestiere ich mir eine durchaus differenzierte, kritische Wahrnehmung, diagnostiziere andererseits aber auch, dass Vielfalt und Menge an Informationen, Neugigkeiten in mir selbst zu einem thematischen Brei unbestimmbarer Konsistenz und geschmacklicher Gewagtheit verrührt werden. Mit Fragmentiertes Leben habe ich diese Gemengelage mal versucht zu beschreiben. Dazu die (unangenehme) Vorahnung, dass diese Ereignisse (wie auch der 9.11., Spendenskandale in CDU wie SPD, europäische Rechtsrucke von Jean-Marie Le Pen über Jörg Haider, Medienverwerfungen von Silvio Berlusconi über Leo Kirch bis hin zu Rupert Murdoch) keine wesentlichen Spuren hinterlassen sondern gleichsam gleich vergessen sind. Ist das schon pathologisch? Bereuenswert? Vermeidbar? Aufmerksamkeitsspannen von mikroskopischem Format? Es zeichnet die Mediengesellschaft aus, ohne eine Auszeichnung zu sein. Die Fragestellung schürft bei genauerer Betrachtung tiefer: Das Wissen um die fast instante Reduktion nicht nur meiner sondern genereller der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit ist ein sich stetig beschleunigender Prozess. Eine Entwicklung, die ich mit Fragmentierung bezeichnen möchte. Die Fassung des Begriffes Fragmentierung erfolgt selbstverständlich auch in unzusammenhängenden Sätzen, in Einzelaspekten, in Partikularperspektiven, in Fragmenten: (1) Die Partikularisierung und Ausdifferenzierung persönlicher Interessen fragmentiert die Weltanschauung in individuelle Einzelperspektiven. Auch wenn mediale Erregtheiten sich immer wieder bemühen, Ereignisse hochzuspielen zu den Ereignissen, die die Welt berühren, steht dem doch die persönliche Erfahrung diametral gegenüber, dass die Schnittmenge über die individuelle Ereignisrezeption schon bei zwei Personen gegen die leere Menge konvergiert. Andererseits sind es diese Überschneidungen, die letzten Endes die gemeinsame Basis definieren, ohne die Kommunikation zu sinnentleertem, belanglosem Gemurmel degeneriert. Kommunikation erfordert einen thematischen Kern, eine gemeinsame inhaltliche Basis, gemeinsame Sprache und Vokabular, die durch Fragmentierung infrage gestellt ist. (2) Abzulehnen ist die Vermutung, dass es sich bei Fragmentierung um eine Form der Neuen Unübersichtlichkeit handelt. Die Habermassche Prägung suggeriert die Möglichkeit, dass besondere Bemühungen, beispielsweise die Erhöhung des eigenen Beobachtungsstandpunktes, diese Unübersichtlichkeit aufheben könne. Im Kern handelt es sich hier um eine aufklärerische Grundannahme. Fragmentierung widersetzt sich aber der Annahme, dass eine Erhöhung der Leuchtstärke, eine Erweiterung des Horizonts tiefere Erkenntnis verschafft. Fragmentierung schließt per definitionem parallele und partielle Wirklichkeiten, die ihre jeweilige Wahrheit, Wahrhaftigkeit haben, ein. Anders formuliert: Die Neue Unübersichtlichkeit konstatiert die Schwierigkeiten bei der Suche nach der Wahrheit, nach dem letzten Grund. Und suggeriert, dass Ordnungsstiftung möglich ist, durch ERkenntnis, Analyse und den Diskurs aufgeklärter Individuen. Fragmentierung dagegen geht davon aus, dass sich die Gesellschaften über die Zeit dahin entwickeln, die Frage nach ihrer eigenen Bedeutsamkeit innerhalb ihres Kontextes (der wiederrum ein Fragment ist), zu etablieren. (3) Fragmentierung inszeniert sich am deutlichsten in den aktuellen multiplen und sequenziellen Berufs- und Beziehungsbiografien. Der integral gemeinte Begriff der in sich geschlossenen Biografie wird durch aktuell erfahrene, erlebte Lebenswirklichkeiten aufgelöst in verschiedene Partialwirklichkeiten — oder eben Fragmente. (4) Ein weiterer selbst-empirischer Beweis für eine gesellschaftliche Fragmentierung findet sich in einem historischen Rückblick: Wo es vor wenigen Jahren noch thematische Schwerpunkte gab, z.B. gesetzt durch eines der drei Fernsehprogramme am Vorabend, diffundiert diese verbindende Erfahrung in der Vielfalt von 30 oder mehr Programmen (ohne jedwede programmatische Ausrichtung). Der Gesellschaftscluster, dem ich einzurodnen wäre, schrumpft auf das Ein-Mann-Universum. (5) Orientierung erfordert definierte Fixpunkte. Die fortschreitende Fragmentierung hebt diese Fixpunkte auf. Für mich ist es naheliegend, diesen Verlust an Orientierung mit als ursächlich dafür zu begreifen, dass die Gesellschaft zunehmend Individuen gebiert, die scheinbar frei und losgelöst von jedem common sense ihre eigenen Interessen verfolgen. Und diese Interessen entstehen völlig losgelöst von jeder gesellschaftlich akzeptierten Libertinage. (6) Platons Höhlengleichnis zeigt die Begrenztheit der menschlichen Wahrnehmung und letztendliche Einsicht in die Begrenztheit der eigenen Erkenntnis. Fragmentierung eskaliert diese Erfahrung der Unzulänglichkeit der eigenen Einsicht in einen universellen Maßstab: Erkenntnis, Einsicht ist sui generis unmöglich aufgrund der Fragmentierung sowohl des persönlichen, individuellen Lebens wie auch des jeweiligen Lebensumfeldes. (7) Wo Individualismus ein gewollter Akt des Eigensinns ist, führt Fragmentierung zu einer von außen kaleidoskopartig zerplitterten Außen- und Innenwahrnehmung, die Individualismus nicht als freiheitlichen Akt versteht, sondern als rein persönliche Lebenswahrnehmung definiert. Fazit? Ich begrüße das Leben in einer societas potentialis. Innerhalb gesellschaftlicher Normen erlaubt mir meine Umwelt, wie weit ich sie auch definiere, das Leben nach meinen persönlichen Vorlieben, Präferenzen, Neigungen. Einzige Einschränkung, Begrenzung, Domestifizierung erfolgt durch Normen, die inzwischen auf ein UN-Mindestmaß reduziert sind, nicht weit entfernt von den mosaischen Tafelkritzeleien. Damit bleibt nicht viel an normativem Charakter. Sie gewinnen ein Blauhelm-Beliebigkeit, die keine Gemeinsamkeit stiftet außer der gemeinsamen Abscheu gegen das völkerrechtliche Verbrechen. Was fehlt, ist ein breiteres Verständnis darüber, was uns verbindet, uns gemeinsam ist. Der Ruf nach Integrationsfähigkeit geht ins Leere, wenn unklar bleibt, wohin denn integriert werden soll. Genauso erzeugt der Roman Herzogliche Ruf nach dem "Ruck", der durch Deutschland gehen müsse, nur ein multifrequentes Grundrauschen der verschiedenen Gesellschaftsfragmente. Kurz gesagt: Ich delektiere mich an meinen Partikularinteressen, genieße mein Leben in meinen Fragmente, ärgere und ängstige mich weiter über die Exzesse dieser Welt, habe keine Antwort und fürchte, dass die Suche danach ein Phantom jagt. [kellers, 20:38 · ] |
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